Michail A. Treister

Michail A. Treister wurde am 07.05.1928 in Witebsk geboren. Seine Familie zog 1928 nach Minsk, wo er bis zu seinem Tod am 09.März 2017 lebte. Er hatte noch drei ältere Geschwister. Sein Vater starb als er 11 Jahre alt war. Am 2. oder 3. Kriegstag, dem 24. oder 25. Juni 1941, wurde das Haus, in dem seine Familie lebte, beim ersten Bombenangriff auf die Stadt Minsk völlig zerstört, wobei sie selbst unter den Trümmern begraben wurden. Damit begann für den damals 14-jährigen Michail der Krieg. Nach sechs Tagen wurde Minsk von den deutschen Truppen besetzt. Seine Brüder wurden in die Rote Armee eingezogen. Seiner Mutter, Schwester und ihm missglückte jedoch die Flucht. Sie hatten versucht zu fliehen und waren 40 oder 50 km weit gegangen. Es gelang ihnen jedoch nicht, der Okkupation zu entkommen. In Minsk wurde zunächst ein Sonderwohngebiet in einem bestimmten Stadtteil eingerichtet, in das alle Juden verpflichtet waren, umzuziehen.

Am 20. Juli 1941 wurde in diesem Sonderwohngebiet das Minsker Ghetto eingerichtet. Da die Treisters weder eine Wohnung und noch irgendetwas anderes mehr besaßen, lebten sie zunächst in einem Kinosaal mit 60-80 anderen Menschen, die ebenfalls nichts mehr hatten. Ab dem Herbst 1941 begann Michail A. Treister als Schuster in einer Schusterei zu arbeiten. Seine Mutter und Schwester arbeiteten in einer Schneiderei.

Michail A. Treister waren die Dörfer und Wälder bekannt, wo sich die Partisanen ringsum Minsk versteckt hielten. Nach seiner Flucht aus dem Ghetto galt er auf den Listen als liquidiert. Er schloss sich einem Partisanenverband ca. 100 km von Minsk entfernt an. Im Auftrag der Partisanengruppen musste er später zurückkehren, um Menschen aus dem Ghetto zur Flucht zu den Partisanen zu verhelfen. Dies war kurz vor der Liquidierung des Ghettos im September 1943. Schließlich konnte er 30 Leute, unter ihnen seine Mutter und Schwester, aus dem Ghetto herausholen. Die Hälfte von ihnen starb unterwegs. Die Übrigen, unterdessen auch seine Mutter und Schwester, gelang es zu den Partisanen zu kommen. Dies war mit Sicherheit ein ganz seltenes Glück, dass es einer ganzen Familie gelang, im Ghetto zu überleben. In Weißrussland gab es ungefähr 15.000 Partisanen. Diese Ghetto-Flüchtlinge bildeten ungefähr zehn Partisanengruppen, davon zwei rein jüdische Einheiten. Die Bielski-Gruppen, in der die Juden aus Westweißrussland kämpften und die Sorin-Gruppe, zu der Treister gehörte, mit Juden aus dem Osten Weißrusslands. Hauptaufgabe war die Sprengung der Eisenbahnlinien. Treisters Aufgabe bestand darin, immer wieder zurück ins Ghetto zu gehen, um von dort weitere Menschen zu den Partisanen zu bringen. Besonders benötigt wurden Ärzte, Apotheker, an Materialien Medikamente und Radioteile. So wagte er am Ghetto den Durchbruch durch den Stacheldraht. Es wollten allerdings mehr fliehen als geplant. Da er sich den Ghettohäftlingen nicht entziehen konnte nahm er nicht sieben oder acht, sondern 30 Personen mit. Er war sich sicher, dass diese Aktion nur scheitern konnte. Wie will man mit einer solchen Gruppe unbemerkt aus der Stadt fliehen? Schließlich stellten sie in dem zu durchquerenden Waldgebiet fest, dass mitten im Wald ein Dorf lag und sie stießen auf eine Polizeipatrouille. Die Hälfte der Gruppe überlebte die Flucht nicht. Seine Partisaneneinheit bestand aus 700 Menschen, wovon nur 150 eine Kampfgruppe bildeten. Neben den Kampfeinsätzen galt es, die Frauen und Kinder zu schützen. Dieser Partisanenverband bildete sich im Frühjahr 1943 mit der Einzigartigkeit, eine Mühle, eine Schusterei und eine Waffenschmiede mitten im Wald zu führen. Für 150 Kinder gab es im Wald eine Schule, die mit Kohlestiften auf Birkenrinde schreiben lernten.
80 Prozent dieser Partisaneneinheit kamen aus dem Minsker Ghetto und die Übrigen aus dem östlichen Teil Weißrusslands. Bis zum Frühjahr 1943 wurden die Juden nicht gerne bei den Partisanenverbänden aufgenommen, weil es die mobilen Einheiten nicht leisten konnten, sich um Frauen, Kinder und Greise zu kümmern.
Als sich der Verlauf des Krieges nach 1943 wendete, wuchs die Hoffnung zu überleben. Treister wurde 500 km hinter der Front in der kommunistischen Jugendorganisation „Komsomol“ aufgenommen und später der Sekretär dieser Organisation. Wegen Andersdenken wurde er aus dieser 1948 wieder entlassen. Im Juli 1944 trafen die Verbände mit der Roten Armee zusammen, welche am 3. Juli 1944 Minsk befreiten.
Nach dem Krieg besuchte er das Technikum und später absolvierte er das Polytechnische Institut, als Elektroingenieur. Er arbeitete 45 Jahre von 1948-1993 als Chefingenieur.
1991 nahm er mit einem anderen Überlebenden aus dem Minsker Ghetto, Felix Lipski, an einem Kongress der ehemaligen Ghetto- und KZ-Häftlinge in Odessa teil. Danach gründeten sie eine ähnliche Organisation in Weißrussland, deren Vorsitz 1991-1998 Lipski übernahm. Sein Stellvertreter war Treister, bis dieser ab 1998 selbst den Vorsitz dieses Verbandes übernahm. Der weißrussische Verband der ehemaligen jüdischen Häftlinge der nationalsozialistischen Ghettos und KZs. Im Januar 2000 gründeten sie eine Internationale „Union der Ehemaligen Jüdischen Opfer des Faschismus“ in Russland, der Ukraine, Moldawien und Israel. Die Organisation kümmert sich um die humanitäre sowie materielle Hilfe für alte und kranke Menschen.
Seit 2002 steht das Internationale Jugendworkcamp mit Herrn Treister in Kontakt. Er übernahm zahlreiche Führungen in der Jugendgruppe und berichtete uns im ehemaligen Minsker Ghettobezirk, an der Jama, in der Geschichtswerkstätte und auf dem jüdischen Friedhof über die Kriegsgeschehnisse, das Leben im Ghetto und seine Erfahrungen als er Menschen aus dem Ghetto zu den Partisanen schmuggelte.

>> Der Link zum Zeitzeugenarchiv der Geschichtswerkstatt „Leonid Lewin“ Minsk.

>> Holocaust-Zeitzeuge erzählt seine Geschichte – auf Soundcloud

Am 09. Mai 2017 in Minsk gestorben.

Michail A. Treister stand seit 2002 im intensiven Kontakt zu unserem Internationalen Jugendworkcamp Bünde-Weißrussland. Er war als Holocaust-, Ghettoüberlebender und Partisan ein unverzichtbar wichtiger Zeitzeuge und treuer Wegbegleiter unserer Friedens- und Versöhnungsarbeit in Weißrussland und Deutschland.

Seine Erinnerungen an die Judenverfolgung in Minsk, das Leben im Ghetto, wie auch die Zeit der deutschen Besatzung in Minsk hat er mit den Jugendlichen des Internationalen Jugendworkcamps in jedem Sommer bei seinen Führungen ausführlich und anschaulich dargestellt. Die Führungen an die historisch bedeutsamen Plätze führten uns in den ehemaligen Ghettobezirk, die heutige Geschichtswerkstätte in einem ehemaligen Ghettogebäude, die Jama – Hinrichtungsort in Minsk oder auch nach Maly Trostenez und nach Blagowtschina – das viertgrößte Vernichtungslager Europas in Minsk. Für uns hat der Krieg an all diesen Plätzen durch Michail ein Gesicht bekommen. Wie man sich mit einer solchen Geschichte wieder dem Leben zuwenden und aktiv für Versöhnung einstehen kann, bleibt für uns doch eher geheimnisvoll und unergründlich. Seine freundliche, humorvolle, witzige und zutiefst versöhnende und aufrechte Haltung wird uns immer an Michail Treister erinnern.

Ulrike Jaeger